Halbzeit.

So ziemlich auf den Tag genau. Der Kalendar sagt es jedenfalls.. auch wenn ich ihm irgendwie nicht ganz traue. Ich kann es einfach nicht glauben – es soll schon ein halbes Jahr vergangen sein, seit ich mich aufgemacht habe nach Indien, in ein anderes Land, eine andere Kultur, viele neue Menschen kennenzulernen, eine ganz ungewohnte Dimension an Gastfreundschaft zu erfahren? Schon ein halbes Jahr seit ich das letzte Mal den Pferdeatem im Gesicht gespürt und mit meiner Familie ausgedehnt gefrühstückt habe, mich von meinem Bruder zur Weißglut habe treiben lassen, einen richtig guten Apfel gegessen habe (Äpfel sind wohl das einzige Obst, das in Deutschland besser ist als in Indien..)? Es war aber nicht das letzte Mal, dass ich ein richtig schönes „Servus“ gehört habe – tatsächlich von einem Inder -, mich richtig wohl und Zuhause gefühlt habe, sogar Sauerkraut gegessen habe… Und es war ein halbes Jahr voller „erster Male“…


Wo ist die Zeit nur geblieben? Ich kann mich noch genau an die Abreise aus Deutschland erinnern. Wie ich mit meinem großen Rucksack und dem Koffer voller Spannung, Neugierde und Vorfreude vermischt mit einem etwas mulmigen und unsicheren Gefühl in den Zug stieg und die vertraute Umgebung für´s Erste zurückließ. Das erste Mal für eine so lange Zeit von Zuhase weg, das erste Mal außerhalb von Europa – in ein Land, das vor mir noch keiner (soweit ich weiß) aus meiner Familie bereist hat, das für mich nach Exotik klang, das ich bis dahin vor allem im Geographieunterricht behandelt hatte, wenn es um exo- und endogene Wachstumsfaktoren oder Bevölkerungsentwicklung ging… und auf einmal war es ganz konkret, frei von jeglicher Theorie – es war das Land, in dem ich das kommende Jahr leben würde.
Vom ersten Tag an schien mich ein anderes Zeitgefühl gepackt zu haben.. ich erlebte so viel Neues. Das Ankommen in der Schule, die ersten mehr oder weniger geglückten Unterrichtsstunden, das Einleben in meiner Gastfamilie, das verschiedenste Essen, das probiert, die Orte, die erkundet werden wollten. Jeder Tag schien mir wie eine Woche, eine Woche wie ein Monat, so viel geschah, musste erlebt und verarbeitet werden – und gleichzeitig flog die Zeit vorbei, schien in großen Brocken abzubrechen. Ein Augenzwinkern und plötzlich war es Oktober und mein Geburtstag stand vor der Tür. Mein erster Geburtstag, an dem ich keine Umarmungen von meiner Familie bekam, nicht die bunten Blätter bewundern konnte, die milde Oktobersonne im Gesicht spüren konnte – und ich hatte ein wenig Angst vor dem Tag, hätte gerne die Zeit etwas vorgespult. Am Ende stellten sich jegliche Befürchtungen als absolut unbegründet heraus; es war einer der schönsten Tage überhaupt und ich wünschte er würde niemals enden. Es mag in den Augen mancher vielleicht nach nicht viel aussehen.. zusammen kochen, reden, tanzen, Zeit verbringen. Aber manchmal frage ich mich, wie das zugeht – wie so viele Menschen, schöne Momente und Gefühle in diese 300 g Herzmuskelmasse passen.


Und ein weiterer Zeitbrocken brach ab. Es begann die Adventszeit, das Schuljahr näherte sich seinem Ende, Weihnachtskonzerte in Darjeeling und Kalimpong standen an. Auch wenn Viele Indien auf den ersten Gedanken vor allem mit Sonne und Wärme in Verbindung bringen mögen – hier in den Himalayaausläufern wurde es kälter und ich begann das wärmende Feuer und die gemütlichen Abende im flackernden Feuerschein sehr zu genießen. Und schließlich stand Weihnachten vor der Tür. Selbst wenn weiße Weihnachten in Deutschland in Zeiten des Klimawandels auch eher die Seltenheit geworden sind – unter blauem Himmel und umgeben von grünen Laubbäumen die Krippe herzurichten (die meine vielleicht sehr deutsch-biederen Augen recht an Disco erinnerte 😉 ), war schon ein befremdliches Gefühl. Ein besonderes Highlight war es hier natürlich meinen kleinen Gastbruder zu beobachten, wie er den Engeln, Tieren und selbstverständlich auch Maria, Josef und dem Christuskind Leben einhauchte und ihnen so die Möglichkeit gab, einige Flugstunden durch den Garten zu nehmen.. Kinder scheinen sich also über jegliche Kulturgrenzen hinweg einig in dem verzweifelten Versuch zu sein, der wissenschaftsfixierten Erwachsenenwelt beweisen zu wollen, dass das Perpetuum mobile eben doch möglich ist. Denn auf einmal fand ich mich in der gutmütigen „Elternrolle“ wieder, die alle fliegenden Objekte schön brav wieder an den Ausgangspunkt zurückbuxiert – nur um erneuten Flugspaß zu garantieren…


Genau wie in Deutschland auch bestand Weihnachten dann vor allem aus Kirche, Verwandtenbesuchen und viel, viel gutem Essen und Trinken. Hier muss ich noch eine kleine Zwischenbemerkung einfügen: indische Partys (zumindest hier in der Gegend) enden stets mit dem Abendessen. D.h. im Umkehrschluss, der Alkohol trifft im Magen erstmal nur Snacks an; die Wirkung dürfte den Meisten ja bekannt sein… Jeden Tag ging es also zu einem anderen Haus, jedoch traf man stets die gleichen Gesichter an. Mein Mitfreiwilliger Luis kam zu Besuch und so war ich nicht die Einzige, die nach einer guten Woche Feiern von dieser ganz neuen Dimension an Verwandschaftsbesuchen etwas erschöpft war.


Am Ende von 2019 konnte ich wirklich nur staunend zurückblicken.. auf das ganze Jahr, aber ganz besonders auf die letzten sechs Monate. So viel war geschehen, so viel an Erfahrung habe ich gewonnen, so viele nette Menschen durfte ich kennenlernen, so viele schöne Momente erleben – ich fühle mich reich beschenkt und bin zutiefst dankbar für diese Möglichkeit, hier in Kalimpong ein Jahr verbringen zu dürfen.


Kurz nach Neujahr ging es dann auf große Reise Richtung Süden, denn nach sechs Monaten – und somit der Hälfte der Zeit – stand das für alle Volunteers verpflichtende Zwischenseminar an. Doch ende ich hier jetzt mal für´s Erste, „denn diese Geschichte soll ein anderes Mal erzählt werden“ wie es so schön in Büchern oft heißt (und was mich, ehrlich gesagt, immer ziemlich geärgert hat).


In diesem Sinne wünsche ich Euch allen noch nachträglich einen guten Start ins neue Jahr!


Bis bald 🙂